Sind Tribes der neue heiße Schei... für's Marketing?

München den 25.03.2020
[Foto: Clayton Cardinalli on Unsplash]

Demografie, Psychografie, Lebensstile, Milieus, Personas, Generation-X, Tribes

»Die präzise, vor allem richtige und möglichst anschauliche Definition der Zielgruppe ist das entscheidende Fundament jeder erfolgreichen Marketingkampagne.« Das war einer der ersten Sätze aus dem Mund meines Profs zu Beginn einer Vorlesung in »Kommunikationsplanung« an der UdK, Berlin. Dieser schlaue Satz hat bis heute nichts an Wahrheit und Aktualität eingebüßt. Was sich allerdings seit den frühen Achtzigerjahren dramatisch verändert hat, sind die Modelle und Kriterien, mit deren Hilfe wir inzwischen Zielgruppen definieren.

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Es gibt mindestens drei alternative Herangehensweisen an die Analyse der Zielgruppe (Chart (c) Andreas Wiehrdt/BrandDoctor)

Demografie, Psychografie, Soziografie, Lebensstile, Milieus, Personas, Generationen und jetzt Tribes stehen als Erklärungs- und Definitionsmodelle für Marketingzielgruppen zur Auswahl und jedes Jahrzehnt hat seine Zielgruppenmethode der Wahl hervorgebracht. Und irgendwie haben alle Modelle immer noch ihre Berechtigung. Aber was ist der beste Weg seine Zielgruppe zu definieren, welches Modell funktioniert für wohl für euch am besten?

In diesem Beitrag stelle ich die bisherigen Methoden und Sichtweisen auf Zielgruppen kurz vor und präsentiere anschließend das Tribes-Modell als eine neuere, möglicherweise zeitgemäßere Methode, globale Zielgruppen zu segmentieren.

Lange Zeit waren demografische Informationen (wie Alter, Geschlecht und Standort) die einzige Möglichkeit, wie Unternehmen ihren Kundenstamm segmentieren und Zielgruppen beschreiben konnten. Das ist heute Gott sei Dank anders. Die Fülle der verfügbaren Verbraucherdaten und schlaues Data Mining ermöglichen es, Einstellungs- und Verhaltensinformationen auf die demografischen Daten zu übertragen, um ein viel reichhaltigeres, differenzierteres Bild von Zielgruppen zu zeichnen. 

Hier ein kurzer Überblick über die wichtigsten Zielgruppenmodelle. Dabei würde es den Rahmen dieses Beitrags sprengen, auf die individuellen Vor- und Nachteile jedes einzelnen Modells detailliert einzugehen. Das hole ich aber vielleicht sehr gerne noch nach.

Die sogenannten »zTypes« verwendet der Online-Fashion-Versender Zalando, um einzelne Zielgruppen nach ihren Lifestyle individuell anzuprechen. (Abbildung: Zalando)

Die sogenannten »zTypes« verwendet der Online-Fashion-Versender Zalando, um einzelne Zielgruppen nach ihren Lifestyle individuell anzuprechen. (Abbildung: Zalando)

Das Lifestyle-Zielgruppen-Modell.
Als ich noch Kommunikationswissenschaften in Berlin studierte, waren demografische Zielgruppendefinitionen State of the Art. Noch Jahre danach, inzwischen schon bei Ogilvy, begann jedes Briefing-Dokument mit rein demografischen Zielgruppenbeschreibungen. Da las man dann: »Hausfrauen, 30 - 50 Jahre, in Orten über 50.000 Einwohner mit einem Haushaltsnettoeinkommen von mehr als 50.000 DM.« [SIC!] Bis ich endlich Mitte der 80er von den Marktforschern bei Lürzer, Conrad und Leo Burnett (heute leo Burnett Worldwide) zum ersten Mal von sogenannten Lifestyle-Zielgruppen hörte. Da zielte man seine Werbung plötzlich auf Erwin, den autoritären, konformistischen Rentner oder Erika, die leistungsorientierte, materialistische Opportunistin. Das Lifestyle-Modell basiert auf der Erkenntnis, dass sich ein bestimmter Lebensstil (sowie bestimmte Werte) in dem Konsumverhalten der Menschen manifestiert. Oder andersherum, dass ihnen Konsum ermöglicht, einen bestimmten Lebensstil zu führen (Werte zu leben) und zu demonstrieren. Das Lifestyle-Modell wurde maßgeblich von Leo Burnett in den achtziger Jahren propagiert und fand schnell seinen Weg in das Marketing großer Unternehmen.

Cross Cultural Consumer Characterisation (4Cs)
Wieder ein paar Jahre später, inzwischen bei Young & Rubicam, flogen wir alle in die USA, um uns auf das Y&R 4C-Zielgruppenmodell trainieren zu lassen, und lernten so, dass sich die kaufbereite Menschheit in sieben Typen einteilen ließe und zum Beispiel »Performer« von »Survivern«, »Mainstreamern« und »Sustainern« unterscheiden. Das Modell der Young / Rubicam Gruppe basiert auf der »Values and Lifestyles«-Studie (VALS), die Ende der Siebzigerjahre mit Unterstützung von ca. 40 Sponsoren aus der Industrie vom Stanford Research Institute durchgeführt wurde. VALS basiert auf der Maslowschen Bedürfnishierarchie und den sozialen Charaktertypen von Riesman. Das Ergebnis waren 9 unterschiedliche Lebensstile, die man erstmals über kulturelle und geografische Grenzen hinweg in unterschiedlichen Ausprägungen nachweisen und beziffern konnte. Was besonders für international agierende Markenartikler und ihre Network-Agenturen recht praktisch war.

Young & Rubicams Cross Cultural Consumer Characterisation (4Cs). Abbildung: http://a2mediaq1a.blogspot.com

Die berühmte »Kartoffel«-Grafik der Sinus-Millies. Abbildung: Von SINUS-Institut - Eigenes Werk, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=81868595

Die Sinus-Milieus
Und dann immer noch in den 80ern kamen die Heidelberger Sinus-Forscher und präsentierten uns ihre Milieus. Eine neue länderübergreifende Gesellschafts- und Zielgruppentypologie für mehr als 40 Länder. Diese bahnbrechende Studie gruppiert Menschen entlang zweier Dimensionen: (1.) Sie unterscheidet Menschen nach ihrer sozialen Lage in Unter-, Mittel- und Oberschicht und (2.) nach ihrer Grundorientierung in »Tradition«, »Modernisierung/Individualisierung« und »Neuorientierung«. Entlang dieser Achsen gruppiert das Sinus-Millieu-Modell zurzeit unterschiedliche 10 Gruppen gleichgesinnter in der berühmten »Kartoffel-Grafik«, die wohl heute jeder Marketer kennt. Inzwischen wurde das Sinus-Milieu-Modell auf verschiedene Marketing-relevante Segmente erweitert. So gibt es heute Sinus-Meta-Millieus (Milieumodelle für über 40 Länder, bspw. für Schwellenländer), Digitale Sinus Milieus (Milieuverortung von Internet-Usern, bspw. für Online-Kampagnen), Sinus-Geo-Milieus (Anwendung der Sinus-Milieus im mikrogeographischen Raum, bspw. für Raumplanung und Direktmarketing), Sinus-Jugendmilieus (Untersuchung der Lebenswelten von Jugendlichen, bspw. in Jugendstudien 2008, 2012, 2016) und sogar Sinus-Migrantenmilieus (Untersuchung der Lebenswelten von Migranten).

Personas
Weil aber vielen diese unterschiedlichen, empirisch entwickelten Zielgruppenmodelle immer noch zu abstrakt erschienen und in den 2.000 ern »User Centricity« sowohl in der Produktentwicklung und Vermarktung plötzlich ganz groß geschrieben wurde, kam ein Zielgruppenmodell aus der Softwareentwicklung gut zu Pass, das Persona-Modell. Hierzu werden erfundene prototypische Charaktere entwickelt beziehungsweise beschrieben, die einen bestimmten Nutzertypus repräsentieren. Eine Persona (im englischen Sprachraum auch häufig »Pen Portrait« genannt) ist der Repräsentant oder die Repräsentantin einer hypothetischen Nutzergruppe, die in Form eines Steckbriefs möglichst anschaulich und lebensnah porträtiert wird.

Ein typischer Persona-Steckbrief. Abbildung: https://eyesign.de

Die verschiedenen Generationen im Überblick. Abbildung: blog.GfK.com

Generationen
Das Generationen-Modell versucht Zielgruppen danach zu beschreiben, in welche Zeit und damit in welche Kultur sie geboren wurden. Es basiert auf der Sozialisationstheorie des deutschen Sozialwissenschaftlers Klaus Hurrelmann und damit auf der Annahme, dass besonders die Jugendphase eines Menschen und die dort vorherrschende soziale, kulturelle und politische Umwelt den Menschen nachhaltig prägen. So wird beispielsweise den Baby-Boomern (Die geburtenstarken Jahrgänge in Deutschland Mitte der 1950er bis 1960er Jahre) nachgesagt, dass sie aufgrund ihrer frühen Konkurrenzerfahrung eine starke Tendenz zur Selbstvermarktung zeigen. Die Generation X (Mitte der 1960er bis frühe 1980er Jahre), bekannt geworden durch Douglas Couplands gleichnamiges Buch und in Deutschland auch beschrieben durch Florian Illies Bestseller »Generation Golf«, ist gekennzeichnet durch Konsumverweigerung, Zynismus und Nihilismus . Es folgt die Generation Y (frühe 1980er bis späte 1990er), auch als Millenials oder Generation Me bekannt. Die Neigung dieser Sinnsucher, alles zu Hinterfragen und ihr hohes Sicherheitsbedürfnis sollen diese Generation charakterisieren. Inzwischen auch schon konsumrelevant, die Generation Z (späte 1990er bis 2000er Jahre). Die Digital Natives blicken wohl relativ entspannt auf ihre Zukunft, neigen aber zu stärkeren politischem Engagement als ihre Vorgängergenerationen (Stichwort »Friday for Future«-Bewegung).

Soweit zu den gängigen Zielgruppenmodellen in aller Kürze. Und nun zum neuen, heißen Schei.. in der Zielgruppenbetrachtung, den Tribes:

Tribes
Die Globalisierung hat eine neue Gesellschaftsordnung hervorgebracht. Die Welt ist kein globales Dorf mehr, sondern die Bühne verschiedener Stämme. Das digitale Zeitalter hat die Bildung moderner, grenzüberschreitender Seelen- und Interessengemeinschaften gefördert. Dir wir im Marketing spätestens seit Seth Godins Bestseller »Tribes – We Need You to Lead Us« als Tribes bezeichnen. Anders als Punks, Hippies und Goths sind diese neuen Tribes aber nicht so leicht zu identifizieren. Sie leben und kommunizieren in eigenen Filterblasen in den Social Networks.

Der Aufstieg der modernen Tribes hat große Auswirkungen auf Marken und Marketers. Bis 2020 wird die Gen-Z, also die Millennials als weltweit größte Generation überholen. Wenn Marken diese nächste Generation von jungen Konsumenten erreichen wollen, müssen sie tiefere Einblicke in die unterschiedlichen Bedürfnisse, Verhaltensweisen, Werte und Einstellungen der verschiedenen Subsegmente der Jugend gewinnen. Über die demografischen Profile hinauszugehen, und diese neuen Tribes zu verstehen ist unabdingbar für modernes Marketing.

Tribes, der Bestseller von Seth Godin. Abbildung: Amazon

Tribes, der Bestseller von Seth Godin. Abbildung: Amazon

Millenials sind keine Zielgrupenbeschreibung!
Zunächst einmal machen die Millennials und die Gen-Z etwa 64 Prozent der gesamten Weltbevölkerung aus. Das sind unglaubliche 4,7 Milliarden Menschen! Ganz klar, dass sie nicht alle auf die gleiche Weise denken oder handeln. Für jeden Artikel, der behauptet, dass diese Jugend narzisstisch, faul und gänzlich ohne Ehrgeiz seien, erscheint ein ander, der behauptet, sie seien gemeinschaftsorientierte Workaholics, die unsere Welt retten wollen und vermutlich auch können. Solche Widersprüche sind das unvermeidliche Ergebnis, wenn man versucht eine reiche, vielfältige und pluralistische demografische Gruppe über einen Kamm zu scheren. Und sie zeigen, dass das Generationen-Modell für die Definition und Ansprache von modernen Marketingzielgruppen nicht mehr wirklich taugt.

Junge Menschen sind kein monolithisches Marketingsegment. Sie als solches anzusprechen wäre ein fataler Fehler. Demografische und soziologisch-geprägte Segmentationen spiegeln selten Unterschiede in den tatsächlichen Bedürfnissen, Werten und Einstellungen junger Kunden wider.

Der Aufstieg von digitalen Geräten und sozialen Medien hat junge Menschen einsamer gemacht als jede andere Altersgruppe. Gleichzeitig war es nie so leicht, sich mit Gleichgesinnten über Grenzen und große Entfernungen hinweg zu vernetzen und auszutauschen. Es gibt so viel Vielfalt innerhalb der Generationen wie Unterschiede zwischen ihnen. Zum Beispiel sind Donald Trump und Barack Obama beide Babyboomer. Jay Z und Jeff Bezos sind beide Teile der Generation X. Cristiano Ronaldo und Mark Zuckerberg sind beide Millennials. Und Malala Yousafzai und Kylie Jenner sind beide Teil der Generation Z. Wie ihr sehen können, ist das Alter allein ein schlechter Bestimmungsfaktor für die individuelle Identität oder die Bedürfnisse des Einzelnen.

Ein neues Zeitalter des Tribe-Marketings
Der Beginn eines neuen Jahrzehnts bietet Vermarktern die Chance, ihre Kundensegmentierungsstrategie neu zu überdenken. Ein beliebtes Beispiel ist Danone. Hier hat man wohl demografische Zielgruppenmodelle hinter sich gelassen und arbeitet nun mit Tribe-Modellen und gemeinsamen »Passion Points«. In Großbritannien soll Danone 16 verschiedene Tribes für seine Wassermarke Volvic identifiziert haben. So konnte man beispielsweise Videoinhalte exakt auf diese Tribes und ihre Bedürfnisse hin anpassen. Dies soll zu einer deutlichen Verbesserung der Performance geführt haben.

Netflix soll seine circa 135 Millionen Abonnenten in 1.300 verschiedene »Taste Communities« differenzieren; auf der Grundlage des Sehverhaltens statt demografischer Daten. Um Todd Yellin, Vizepräsident für Produkte bei Netflix, zu zitieren: »Denn, das ist ein Schock für Sie, es gibt tatsächlich 19-jährige Männer, die sich Dance Moms ansehen, und es gibt 73-jährige Frauen, die sich Breaking Bad und Avengers ansehen.«

Verhaltensbasierte Einblicke in die Präferenzen der Benutzer sparen Netflix 1 Milliarde Dollar pro Jahr, indem sie die Abwanderung von Abonnenten reduzieren. Laut Gallup übertreffen Unternehmen, die Erkenntnisse über das Kundenverhalten nutzen, ihre Mitbewerber um 85 Prozent im Umsatzwachstum und mehr als 25 Prozent in der Umsatzspanne.

Wir leben in einer post-demografischen Welt, in der Verhaltensmuster nicht mehr allein durch das Alter vorhergesagt werden können. Daher müssen sich Marken von traditionellen demografischen Segmenten wegbewegen und sich auf Einstellungs- oder verhaltensbasierte Zielgruppenmodelle wie Tribes konzentrieren. Dies ist nicht einfach, es erfordert leider oft hohe Investitionen in Marktforschung und Data Mining. Doch die langfristigen Vorteile überwiegen bei Weitem die kurzfristigen Kosten. Durch den Aufbau moderner Kunden-Tribes haben Marken eine einmalige Gelegenheit, die Herzen und Köpfe der nächsten Generation von Konsumenten zu gewinnen.

Mehr zu dem Thema auch in dem hervorragenden Artikel meines Dozentenkollegen Dirk Engel für das Marktforschungsportal der Fachzeitschrift HORIZONT (https://bit.ly/3pIqWWg).

Wenn ihr gerne Unterstützung dabei hättet, das beste Zielgruppenmodell für euer Marketing zu finden und eure wichtigen Zielgruppen präzise und anschaulich zu beschreiben, freut sich der BrandDoctor auf eure Kontaktaufnahme.


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Als BrandDoctor helfe ich Unternehmern, Gründern und Marketingverantwortlichen dabei, ihre wichtigen Marken- und Marketingentscheidungen professionell und Erfolg versprechend zu treffen. Mit innovativen Tools unterstütze ich sie, das wichtige strategische Fundament dafür zu legen, mit ihren Marken nachhaltig erfolgreich am Markt zu agieren.

Über den Autor: Andreas Wiehrdt entwickelt und revitalisiert Marken seit über 20 Jahren. Alleine, als Markenstrategieberater oder im Team mit seinen Design-Kollegen bei mattweis (www.mattweis.de).

Andreas Wiehrdt

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